Ein moderner Mythos besagt, dass Gäste in einem China-Restaurant nach dem Essen Glückskekse öffneten, um erhellende Zukunftsprognosen auf den eingebackenen Zetteln zu lesen. Dabei soll auf einem der Zettel keine Prophetie, sondern der Hilferuf eines Menschen gestanden haben, der in einer Glückskeksfabrik gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen würde.
So oder in ähnlicher Form hat ein Sachverhalt Einzug in das moderne Mythen-Narrativ erhalten, der nicht weiter weg von Fiktion sein könnte. Denn diese versklavten Menschen existieren wirklich.
1994 berichtete die US-amerikanische Kongress-Abgeordnete Nancy Pelosi über einen SOS-Brief des inhaftierten Zwangsarbeiters Chen Pokong, der seinen Hilferuf in einem von ihm gefertigten Strauß Plastikblumen versteckte. Plastikblumen, die in die USA exportiert wurden. Chen berichtete von unzumutbaren Arbeitsbedingungen, mangelnder hygienischer und medizinischer Versorgung, verfaultem Essen, politischer Indoktrination und Folter. Als ‚politischer Dissident‘ saß Chen Pokong von 1989 bis 1995 in Arbeitslagern in Haft. Er wanderte 1997 in die USA aus und klärt seitdem die Öffentlichkeit über die Situation von Zwangsarbeitern in China auf. Sein Beispiel war nicht das erste und auch nicht das letzte.
Jahrzehnte an Umerziehung und Folter
China hat sich in den vergangenen 15 Jahren gleichermaßen radikal global-kapitalistisch umgebaut und gleichzeitig bewusst isoliert – auch der innenpolitische Kurs ist wieder härter geworden. Präsident Xi Jinping, der sich mit Verfassungsänderungen längere Amtszeiten gesichert hat, räumt politische Gegner innerhalb wie außerhalb der Partei mit äußerster Härte aus dem Weg. Die populärsten Beispiele sind der ehemalige Staatspräsident Hu Jintao, der beim Parteikongress 2022 vor den Augen der Weltöffentlichkeit plötzlich von seinem Platz abgeführt wurde. Oder der ehemalige Ministerpräsident Li Keqiang, der als politischer Reformer galt und sich besonders für soziale Fragen und ärmere Bevölkerungsteile engagierte. In der Partei zählte er nicht zum engeren Zirkel um Xi Jinping und wurde von diesem letztlich ins politische Abseits gedrängt. Li, schon länger gesundheitlich angeschlagen, starb Ende Oktober 2023 an einem Herzinfarkt – auch wenn die genauen Umstände nicht sicher geklärt werden konnten. Die Anteilnahme der Öffentlichkeit an seinem Tod war gewaltig, Li Keqiang galt als beliebt.
Wenn solche Parteifunktionäre einfach aus dem Weg zu räumen sind, was passiert dann mit einfachen Demonstranten, außerstaatlichen Glaubensgemeinschaften, ethnischen Minderheiten?
Das Prinzip von Umerziehung durch Arbeit hat in China eine lange Tradition. Bereits unter der Herrschaft Mao tse-Tungs wurden Konterrevolutionäre und andere politische Gegner in diesen Arbeitslagern interniert, den sogenannten Laogai, was „Reform durch Arbeit“ bedeutet. Während in den späten 1970er- und frühen ’80er-Jahren durch die vorsichtige, reformorientiertere Politik Deng Xiaopings viele Inhaftierte aus den Arbeitslagern entlassen wurden, verhärtete sich der Kurs der Kommunistischen Partei gegenüber Kritikern spätestens ab 1989 wieder – das Tian’anmen-Massaker steht dafür als trauriges Beispiel. Anhänger der Demokratiebewegung wie Chen Pokong wurden inhaftiert und zu harter Zwangsarbeit verurteilt, um den gewaltigen wirtschaftlichen Sprung Chinas mit voranzutreiben. Wobei verurteilt nach Gerichtsprozess, Anhörung, Anklage und Verteidigung klingt – dem ist kaum so: Bis heute enden über 99 Prozent aller Verhandlungen vor chinesischen Gerichten mit einer Verurteilung. Das hat besonders vor dem Hintergrund der Laogai System. Denn Sklaven kosten wenig und arbeiten viel, sie erhalten keinen oder verschwindend geringen Lohn, sie werden durch Gewalt zu 15- oder 20-stündigen Schichten gezwungen und im Zweifelsfall einfach beseitigt, sollten sie keine Leistung mehr erbringen können oder wollen. Tausende billiger Arbeitskräfte, die gleichzeitig auf Spur gebracht werden, hat einen Effekt nach innen und außen: Sie ermöglicht die niedrigen Preise chinesischer Exportgüter und sichert innenpolitisch Ruhe.
Die Laogai existierten offiziell noch die gesamten 1990er, 2000er und frühen 2010er. Dann schuf die Kommunistische Partei Chinas die Lager 2013 ab – offiziell. Denn noch immer erreichen Hilferufe in Form von SOS-Briefen westliche Konsumenten, herausgeschmuggelt aus Arbeitslagern, unter Lebensgefahr. Versteckt in Halloween-Artikeln, in Plastikblumen, aber auch in Medizin-Produkten wie Schwangerschaftstests; zuletzt fand im Dezember 2019 ein sechsjähriges Mädchen in London einen Hilferuf in einer Packung Weihnachtskarten. Alles Produkte, die wir in den westlichen Industriestaaten kaufen.
Die Berichte über Umerziehungslager für die ethnische Minderheit der Uiguren in Nordwest-China sind das aktuellste Beispiel für den Fortbestand des Systems Laogai. Die Situation dieser Gefangenen in den Arbeitslagern in der Region Xinjiang steht mittlerweile bei Menschenrechtsorganisationen stellvertretend für das System der Umerziehung durch Arbeit, das in Gefängnissen in ganz China nach wie vor praktiziert wird. Die Namen der Laogais mögen sich ändern – nun heißen sie beispielsweise Entzugsanstalten für Drogenabhängige oder Ausbildungszentren – der Kern ihrer Aufgabe ändert sich nicht: Menschen, die nicht auf Parteilinie sind, durch Arbeit und Folter in ihren moralischen, philosophischen oder religiösen Ansichten zu brechen und gleichzeitig ökonomisch auszubeuten. So praktiziert es die Regierung auch an Anhängern der spirituellen Bewegung Falun Gong, die die Partei als staatsgefährdend betrachtet. Durch die Situation der Uiguren, in ihrer religiösen Kultur zumeist Moslems, kriegt diese Umerziehung nun noch eine Dimension von Völkermord.
Auch wenn es keine Rolle spielen sollte – nicht nur Chinesen sitzen in diesen Arbeitslagern ein. Auch Europäer oder US-Amerikaner werden bei angeblichem Verschulden in China verurteilt und teils in Laogais inhaftiert. Manche von ihnen sitzen zwei Jahre, manche acht, bevor diplomatische Bemühungen sie wieder freibekommen. Manche verschwinden spurlos. Wahrscheinlich ist es auch nur den Berichten jener europäischen Gefangenen zu verdanken, die nach ihrer Rückkehr bei NGOs und Politik auf das Problem aufmerksam machten, dass nun überhaupt etwas passiert. Die EU-Kommission brachte im Frühjahr 2023 einen Antrag ins Parlament ein, nach dem Unternehmen nun in ihrer Sorgfaltspflicht die gesamte Lieferkette bei Importen auf Einhaltung substanzieller Menschenrechte überprüfen müssen.