Die rechte Wende

Nazi-Geheimtreffen, extremistisch unterwanderte Bauern und drohende AfD-Ministerpräsidenten: Deutschland erlebt aktuell den vermutlich größten Rechtsruck seit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933. Zerfällt die Demokratie?

Es blieb einem fast die Spucke weg, als das Rechercheportal Correctiv am 10. Januar 2024 eine Reportage über ein Geheimtreffen von Nazis, Unternehmern und rechtsextremen Politikern veröffentlichte: Ein Masterplan zur Ausweisung und Zwangsumsiedlung ungewollter Bürger wurde dort besprochen, ausgearbeitet und vorgestellt von populären Figuren der Identitären Bewegung und anderen Nazi-Gruppierungen. Ebenso diskutiert wurden Methoden zur stärkeren Finanzierung der AfD sowie Taktiken zur Ausweitung rechtsextremistischer Reichweite über soziale Netzwerke – mit dem Ziel, demokratische Prozesse weiter auszuhöhlen: Anzweiflung von Wahlen, Verfassungsgerichte verunglimpfen, öffentlich-rechtliche Medien durch die Einrichtung eigener Sendeanstalten bekämpfen. Das Ganze veranstaltet und finanziert unter anderem von Gesellschaftern deutscher Unternehmern, die in unserer Mitte Discounter-Brötchen (Backwerk) und Burger (Hans im Glück) verkaufen. Und mitten drin AfD-Funktionäre, die beratende Verbindungen bis in die Parteispitze haben.
Wer jetzt noch daran zweifelt, dass diese Partei bis ins Mark rechtsextrem ist, dem ist nicht mehr zu helfen. Diese politische Gruppierung versucht nichts Anderes, als das politische System der demokratischen BRD in ein faschistisches, rechtsautoritäres Regime zu verwandeln. Bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst diesen Jahres könnte die Partei die ersten Schritte in diese Richtung unternehmen.
Ist das irgendwie zu verhindern, zumindest mit rechtlichen Mitteln, wie es in den USA mit Donald Trump versucht wird? Rein verfassungsrechtlich erfüllt die AfD zumindest theoretisch die Voraussetzungen für ein Parteiverbot, denn wie die Correctiv-Recherchen zeigen, besteht bereits der Plan zu einer systematischen Unterwanderung der Demokratie mit Vernetzung in Politik, Medien und Wirtschaft. Und offensichtlich nicht abstrakt als ideologische Fantasie, sondern konkret ausgearbeitet, mit abwartender Haltung zum Startschuss nach der einen oder anderen politischen Machtübernahme. Selbstredend ist die AfD clever genug, sich solche Pläne nicht in Schriftform nachweisen zu lassen, noch dazu in irgendeiner Form aktiv gestaltend tätig zu sein – das überlässt man Figuren wie dem Identitären Martin Sellner und rechten Privatiers und Investoren.
Und eventuell hat unsere Gesellschaft und unsere Justiz auch wieder einmal einen entscheidenden Moment verpasst: Professor Frank Decker, Politikwissenschaftler der Universität Bonn, hat große Zweifel am Erfolg eines potenziellen Verbotsverfsahrens. Mit umgedrehten Vorzeichen wie beim versuchten NPD-Verbot – zu klein und unbedeutend – sei die AfD mittlerweile zu groß. Wer deutschlandweit mittlerweile 20-30 Prozent der Wählerstimmen hinter sich vereint, wird schwer loszuwerden sein. Das ist auch ein Verdienst von CDU und CSU, die sich entweder nicht entschieden genug gegen die rechtskonservative, mittlerweile mehr als AfD-nahe Werteunion abgrenzten oder wie die CSU mit den Freien Wählern einfach AfD-Rhetorik und -Narrative kopierten. Das mag in Bayern für eine (noch) demokratische Partei wie die CSU noch ein Mal funktioniert haben. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden auf die aktuellen Landeschefs andere Herausforderungen zukommen: Denn hier wählt man dann vermutlich nicht die Kopie, sondern das Original.

Ein weiterer Sargnagel für unsere Demokratie wird gerade, für die AfD sehr unterstützend, von Teilen der Protestbewegung der Landwirte gegen geplante Subventionskürzungen eingetrieben. Der Sprecher der Bewegung Land schafft Verbindung (LSV), Anthony Lee, wird mittlerweile gern auf AfD-Veranstaltungen als Sprecher eingeladen, auch Teile der Werteunion stehen dem Landwirt und CDU-Kommunalpolitiker nahe. Lee ist Teil einer rechtsextremen Protestbewegung, die versucht, die Kritik der Landwirte politisch zu vereinnahmen und für sich zu nutzen. Zwar gibt es auch Widerstand, so zum Beispiel von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), doch das Kind scheint fast schon in den Brunnen gefallen zu sein. Denn generell ist der Ton rauer, politikfeindlicher und schlicht extremistischer geworden: Man denke an die Blockade des Anlegestegs einer Fähre, mit der Wirtschaftsminister Habeck von einer Privatreise zurückkommen wollte – die Fähre wäre laut Reederei dabei fast gestürmt worden. Später sah man bei Bauernprotesten in Berlin und anderswo nicht nur teilweise Flaggen und Slogans aus der rechten Szene: In Brandenburg etwa hat die Neonazi-Vereinigung III. Weg die Bauernproteste für sich vereinnahmt und marschiert mit Blut-und-Boden-Slogans durch Innenstädte.

Wer jetzt noch denkt, das sei wieder einmal ein Ossi-Problem, weil die Dunkeldeutschen in den mittlerweile nicht mehr ganz so ’neuen‘ Bundesländern einfach nicht ohne Unrechtssystem existieren könnten, ist schief gewickelt. Einerseits darf man die antifaschistische Bewegung im Osten keinesfalls unterschätzen: Sie ist einem teilweise flächenmäßig viel breiterem Druck von Rechts ausgeliefert und hat durch ihre generell weniger im akademisch-intellektuellen Bildungsbürgertum verhaftete Geschichte eine andere Einstellung zu potenziellen staatlichen Repressalien – was ihren Aktionismus manchmal härter, aber auch mehr aus der Not geboren erscheinen lässt.
Andererseits verschleiert diese Sichtweise die Probleme, die der Westen Deutschlands seit Gründung der Bundesrepublik mit rechten Parteien und Interessengruppen hatte. Diese waren und sind immens. Sei es die mangelnde Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung für das nationasozialistische Erbe in den 1950er, 60er und 70er Jahren, der Duldung ehemaliger NSDAP-Funktionäre in Unternehmen und Justiz, sei es die generell rassistische Grundeinstellung gegenüber Gastarbeitern und deren (übrigens deutschen) Nachkommen, der jüngst wieder immer mehr aufflammende Antisemitismus – oder sei es eben der breite Erfolg der AfD in den ‚alten‘ Bundesländern, vor allem in Hessen, Bayern und Niedersachsen, wo die Partei bei den letzten Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse einfuhr: In Niedersachsen waren es 2022 elf Prozent, in Bayern 2023 14,6 und in Hessen im selben Jahr sogar 18,4 Prozent. Hessen ist damit das deutsche Bundesland mit der vierthöchsten AfD-Wählerschaft überhaupt, und in Bayern hat die AfD mit großer Wahrscheinlichkeit nur aufgrund zu großer programmatischer Nähe zu den Freien Wählern nicht noch besser abschneiden können.

Wir sehen also, die Fakten liegen auf dem Tisch: Rechtsextremes Gedankengut ist in Deutschland massentauglich wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Medien geben rechtem Gedankengut zu viel unreflektierbaren Raum, Unternehmen scheren sich aus Profitgier teils herzlich wenig um die Demokratie und eine vom Verfassunsgschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte Partei wird aller Voraussicht nach ab dem Herbst 2024 in mindestens einem Bundesland die Regierung stellen. Bis dahin werden wir unzählige Male ins Kino gegangen sein, Kaffee getrunken, Geburtstage gefeiert, Computer gespielt oder Fußball geschaut haben. Im Hier und Jetzt leben wir in einer Krisenzeit aus Klimawandel, Krieg, Inflation und Zukunftssorgen, dennoch machen wir meist so weiter in der Hoffnung, dass schon alles gut werden wird. Genau diese Einstellung werden auch eine Menge Menschen 1928, 1929, 1932 und 1933 gehabt haben, als die rechtsextremen Angriffe auf eine sozial, wirtschaftlich und politisch geschwächte Gesellschaft sich mehrten und schließlich in der Machtübernahme der NSDAP mündeten. Auch diese Menschen hatten Zukunftssorgen, mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, hatten direkt mit den Auswirkungen von Krieg und Krisen zu kämpfen. In diese Bruchstellen stießen die Faschisten einst und in diese stoßen sie jetzt. Überall auf der Welt, und wenn wir ihnen nicht geschlossen und entschlossen entgegentreten, dann werden sie gewinnen.
Spätestens, allerspätestens seit den Enthüllungen durch Correctiv sollte nun allen klar sein, welche politische Welle über uns hereinzubrechen droht. Niemand kann sich mehr verstecken und sagen, er habe von nichts gewusst, sei überrascht oder bestürzt über die Entwicklung in diesem Land. Die AfD ist genau der Wolf im Schafspelz, als die Björn Höcke sie 2018 ausgerufen hat. Wie lange lassen wir sie noch gewähren?

Eine zentrale Rolle im Widerstand gegen diese Entwicklung müssen hier neben demokratischen Politiker*innen und der Justiz auch jene antifaschistischen Aktionsbündnisse einnehmen, die einst durch die Gewerkschaften gegründet wurden. Das Motto „Mach meinen Kumpel nicht an!“ aus den 1980er Jahren war eine Reaktion auf die zunehmende Fremdenfeindlichkeit am Arbeitsplatz. Der 1986 gegründete namensgebende Verein hat bis heute Unterstützer und muss wieder vermehrt in Erscheinung treten. Die Zeit drängt, wenn wir in den Betrieben nicht allmählich den Geist einer ‚deutschen Arbeiterschaft‘ wuchern sehen möchten. Wo, wenn nicht am Arbeitsplatz, kommen tagtäglich Menschen unterschiedlichster Herkunft und politischer Anschauung zusammen – der Arbeitsalltag ist jeden Tag ausgesprochen politisch. Jede/r, ob am Band, im Büro oder Außendienst, sollte einerseits auf die Kommunikation zwischen und unter Kolleg*innen achten, aber sich auch möglichst schlau darüber machen, welchen politischen Geist die Unternehmensführung vertritt. Autoritäre Strukturen und Kapitalismus passen wunderbar zusammen, da fällt es mancher Führungsperson leicht, sich auch mal auf einem AfD-Podium sehen zu lassen, wenn es denn Aussicht auf Profit gibt.
Betriebsräte sind durch das Betriebsverfassungsgesetz dazu aufgefordert und geschützt zugleich, wenn es um antifaschistische Arbeit geht (BetrVG, § 80 Abs 1 Nr. 7). Dieser Hebel muss flächendeckender und nachhaltiger betätigt werden, nicht nur, um die Stimmung unter Beschäftigten weg vom Rechtsextremismus und hin zu demokratischen Minimalnennern zu bewegen, sondern auch, um die Firmenleitung in die Pflicht zu nehmen, sich an der politischen Willensbildung aktiv zu beteiligen. Denn wenn jetzt wieder, wie 1933, die Aktivisten allein stehen und die Wirtschaft wegschaut, dann wird es bald sehr sehr dunkel in diesem Land werden.

Vor gut 25 Jahren, im Mai 1989, wurden in der DDR die letzten Wahlen nach SED-Doktrin mit den Einheitslisten der Nationalen Front abgehalten. Sie waren unfrei, sie waren scheindemokratisch, sie waren einfachst manipulierbar. Im selben Jahr gingen in vielen ostdeutschen Städten Menschen unter Gefahr für Leib und Leben auf die Straße, weil sie sich frei machen wollten vom Unrechtsstaat, und eine echte demokratische Gesellschaft herbeiführen wollten. Diese Bewegung war Teil eines Entwicklungsprozesses, der 1990 in der friedlichen Vereinigung der beiden deutschen Länder mündete. Mit allen Herausforderungen, sozialen Ungleichheiten und anderen Problemen, die diese historische Zäsur mit sich brachte, war sie dennoch eines: Demokratisch.
Wenn wir jetzt, 25 Jahre später, nicht hellwach sind, dann werden wir in diesem Jahr wieder eine Wende erleben. Und zwar eine rechte.

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