Es lädt natürlich immens zu einem fast menschenverachtenden Sarkasmus ein: Denn was jetzt gerade passiert, ist letztlich nur das Resultat aus jahrzehntelangem Wegschauen, Wegmoderieren, Wegtechnologisieren und Mit-Geld-Zuscheißen. Man könnte eine zwingende Kausalität in der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften herauslesen, die sich, ganz nach der marxschen Evolutionslehre, irgendwann eben selbst überwinden, sich selbst abschaffen werden. Wie, wann und in welchem Kontext das passieren wird, hat Marx nicht klar definiert; seine These mag zwar gewesen sein, dass sich am Ende die Arbeiterklasse erheben wird über das Kapital, aber letztlich ist das Endresultat – besonders aus der Perspektive seiner Zeit – überhaupt nicht absehbar gewesen. Überwinden wir also tatsächlich den vermeintlich demokratischen Kapitalismus, nur um endlich im demaskierten faschistischen aufzugehen?
Wie lange erodieren Vorstellungen über offene Gesellschaften, Menschenrechte und ökologische Verantwortung gegenüber unserer Umwelt und kommenden Generationen weiter vor sich hin, bis sie letztlich ganz verschwunden sind? Zehn Jahre? 25, 50? Wie werden die Menschen in 100 Jahren auf die 2020er Jahre zurückblicken, so wie wir auf die 1920er zurückblicken, und schlau darüber referieren, was wann und unter welchen Umständen in die unausweichliche Richtung einer Katastrophe lief? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt sieht die deutsche Perspektive auf Herausforderungen für die Demokratie zu negativ: Demokratie sei kein „Paradies“, sondern ein „frustrierendes, langsames, schwieriges, selbst-korrigierendes System“. Die Herausforderungen für die Demokratien seien davon abhängig, wie die Bürger in einer Demokratie reagierten. Er verweist auf die für ihn „inspirierenden“ Reaktionen aus der Mitte der Zivilgesellschaft gegen die Remigrations-Pläne der AfD. Dies sei nicht genug, aber ein Zeichen dafür, dass der Widerstand komme, sobald der Druck groß genug sei.
Das Problem dabei ist: Dieser Druck mag zwar kommen, aber er kommt unterm Strich dann zu asymmetrisch, ungleichzeitig und nicht zielgerichtet, wenn Menschen zwar auf die Straße gehen, dann bei Europawahlen aber dennoch fast jede/r Fünfte das Kreuz bei Rechtsextremen machen. Noch haben Staaten wie die USA, Deutschland oder Frankreich weitestgehend funktionierende Demokratien: Freie Presse, Mehrparteiensysteme, Gewaltenteilung. Die sogenannten „checks and balances“, wie sie in den Vereinigten Staaten heißen, die Institutionen, die die Verfassung schützen, Landes- und oberste Gerichtshöfe, sind noch verhältnismäßig unabhängig. Noch. Parteien wie die AfD machen keinen Hehl daraus, das ihnen Verfassungsorgane ein Dorn im Auge sind, dazu muss man sich nur die Pressekonferenz der Parteiführung nach der EU-Wahl anschauen. Wenn wir im Herbst tatsächlich keine Brandmauern erleben oder die AfD einen Regierungsauftrag erhalten wird, müssen wir das erst ein Mal aushalten. Aber die Angst vor Erosion der demokratischen Zivilgesellschaft ist jetzt schon da, und sie ist real: Bereits jetzt fürchten linke NGOs und Flüchtlingsinitiativen um ihr Fortbestehen in den ostdeutschen Bundesländern.
Das, was sich bei den EU-Wahlen zugetragen hat, und was sich bei den kommenden Landtagswahlen im Herbst abzeichnet, ist noch keine endgültige Voraussage für die nächste Bundesregierung. Noch gibt es eine Mehrheit von vermutlich über 75 Prozent an Menschen in diesem Land, die die AfD nicht wählen. Doch gerade der AfD-Zuwachs bei den Wahlen besonders unter den Jüngeren lässt Übles befürchten. Und auch wenn das aktuell noch keiner für möglich halten mag oder will: Das kann jetzt innerhalb nicht mal einer Dekade alles sehr schnell gehen. Und zwar schief.