Quiet Quitting – das neue „Dienst nach Vorschrift“?

Der zunehmende Leistungsdruck in der Arbeitswelt führt zu neuen alten Formen selbstschützender Praktiken

Die Selbstausbeutung von Angestellten ist besonders bei Büroarbeit großes Thema. Unbezahlte Überstunden, leistungsorientierte Bezahlung, eine Teambuilding-Maßnahme nach der anderen, alles zur Selbstoptimierung. Pervertiert wird das System Arbeit noch durch den indirekt psychischen Druck, die Kollegen und Kolleginnen selbst im Krankheitsfall nicht hängen lassen zu wollen. Das Modell Krokodil funktioniert.

Da verfallen viele aus Selbstschutz in ein Schema, das in der hirngewaschenen, neoliberalen Arbeitswelt mittlerweile fast schon als Häresie aufgefasst wird: Dienst nach Vorschrift. Wenn die Angst vor Freizeitmangel, Unterbezahlung und Burnout so groß wird, der Job an sich ja aber dennoch Spaß macht, dann wird die Arbeit eben so verrichtet, wie im Arbeitsvertrag geregelt ist – nicht mehr, nicht weniger. Aus den USA ist dieses Phänomen jüngst als „Quiet Quitting“ bekannt, also etwa „stille Kündigung“. Dort machen Videos in den Sozialen Netzwerken die Runde, in denen Menschen über ihre Nichtbereitschaft sprechen, im Job ständig überzuperformen und eben nicht zu leben, um zu arbeiten. Die steigenden Lebenshaltungskosten bei gleichbleibenden Löhnen, die generelle Frage nach Sinn und Unsinn der sogenannten Bullshit-Jobs (meist in der Medienbranche) lässt viele ArbeitnehmerInnen mit der Erkenntnis zurück, dass es im System zwar wenig Alternativen zur Lohnarbeit geben mag, diese aber nicht den Lebensmittelpunkt darstellen muss, geschweige denn irgendeine Art nachhaltigerer Erfüllung bietet.

Jetzt mögen den durchschnittlichen Beschäftigten diese Fragen weder neu noch sonderlich revolutionär erscheinen: Einerseits sind viele dieser Belange in Deutschland gesetzlich geregelt, beispielsweise über das Arbeitszeitgesetz. Es gibt (auch in der Büroarbeit) Branchen mit Tarifverträgen, die einigen der oben genannten Problemen entgegenwirken sollten. Andererseits hat der Begriff ‚Dienst nach Vorschrift‘ eine lange Tradition in Deutschland, er kann Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem Job sein, kann Bummelstreik sein etcpp. Von daher mag es belanglos erscheinen, wenn jetzt aus den USA ein weiterer Anglizismus den deutschen Sprachraum kapert.
Dennoch entwickelt sich unsere Arbeitswelt immer mehr in Richtung ‚amerikanische‘ Verhältnisse. Das Aufweichen von Arbeitnehmerrechten, der Rückgang der Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften, die zunehmenden Fälle von Union Busting, also dem gezielten Zerschlagen oder Verhindern betriebsrätlicher Strukturen – all das sind Fakten. Es verwundert also nicht, dass das Thema über den großen Teich nun auch wieder in die hiesigen Sozialen Netzwerke und öffentlichen Diskussionen schwappt. Quiet Quitting IST das neue Dienst nach Vorschrift – vor allem bei den jüngeren Generationen.

Natürlich ruft die Thematik die neoliberale Leistungsgesellschaft auf den Plan, die sofort die schweren Geschütze auffährt: Da wird die jüngere Generation als faul, nicht leistungswillig und verweichlicht bezeichnet, also ein Scheinargument nach dem anderen hervorgeholt, unterfüttert mit vermeintlich ach so deutschen Tugenden, die wie so oft beim Thema Leistung gefährlich an die ‚hart wie Kruppstahl‘-Rhetorik aus NS-Zeiten erinnert.

Dabei wollen die Jüngeren einfach nicht die gleichen Fehler wie ihre Elterngeneration machen. Und diese Generation hilft sich mit den Mitteln, die ihr zu Verfügung steht. Denn wenn wir ehrlich sind, haben wir schon seit Jahrzehnten das nachhaltige Einstehen für unsere Rechte als Arbeitnehmer verlernt: Das echte Aufbegehren, der Arbeitskampf, mit Mitteln, die dem Begriff auch tatsächlich gerecht würden, haben in Deutschland keine Tradition (mehr); die Sozialpartnerschaft hat den sozialen Frieden im Land vermeintlich gesichert, aber auch das Konfliktpotenzial verwässert, die klaren Trennlinien zwischen Arbeitgeber- und -nehmerseite teils bedenklich verschwimmen lassen. Andere Länder waren und sind da meist konsequenter und kompromissloser (vgl. den Arbeitskampf in Frankreich, Griechenland, usw.) Quiet Quitting ist somit auch der Ausdruck eines Zeitgeistes des Empfindens von Alternativlosigkeit.

Post-2000er-Begriffe wie ‚flache Hierarchien‘, ‚Selbstmanagement‘ und ’sei dein eigener Boss‘ sind uns allen nett verkauft worden, stellen unterm Strich aber nur andere Formen der Ausbeutung dar. Wo man die Angestellten nicht mehr mit der Peitsche antreiben kann, müssen eben andere Formen herhalten, um als Chef zu kriegen, was man(n) will.
In diese Welt stolpert nun eine junge Generation nach der anderen – in eine Arbeitswelt, in der im Prinzip alle vergessen haben, wo oben und unten ist, was eigentlich der Wert von Arbeit, Mehrarbeit, Freizeit ist, in der alle von ‚work-life-balance‘ sprechen und sich beklatschen, im Prinzip aber niemand mehr weiß, wovon gesprochen wird. Umfragen zufolge haben auch in Deutschland bereits knapp 16 Prozent Arbeitende innerlich gekündigt.

Quiet Quitting könnte somit nicht einfach nur ein weiterer Begriff, sondern eine hoffnungsmachendes Lebensgefühl einer Arbeitsgesellschaft sein, die mit ihren ganz eigenen Mitteln versucht, dem Turbo-Kapitalismus ein wenig den Zahn zu ziehen.
Ob das gelingen wird, ist allerdings fraglich. Denn diese Art des Umgangs mit Schieflagen beim Thema Arbeitskultur ist höchst individualisiert, intimst persönlich und (bislang) alles andere als sozial organisiert – Verbreitung über Soziale Netzwerke hin oder her. Es ist damit selbst Ausdruck des Zeitgeistes eines Hyper-Individualismus, in dem es nur um das Selbst, die eigenen Belange, eigene körperliche und geistige Gesundheit, die eigene Freizeit und das individuelle Verhältnis zur Arbeit geht. Wenn aus Quiet Quitting keine soziale Bewegung wird, werden im Zeitalter von Rationalisierung, Mehrarbeit und unbezahlter Überstunden, Krokodil, Burnout und Selbstausbeutung jene die Zeche zahlen müssen, die sich dem System nicht durch diesen nicht ganz neuen ‚Dienst nach Vorschrift‘ entziehen wollen oder können.

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