5 : 500 – unser Verhältnis zum Leid

Fünf Menschen starben in einem gesunkenen U-Boot – bis zuletzt bangten viele mit ihnen. 500 Menschen ertranken vor der griechischen Küste – und viele zuckten mit den Schultern. Stimmt etwas nicht mit uns?

Fünf. Dieses Zahlwort erzeugt sofort eine Assoziation in uns. Wir haben konkrete Vorstellungen von Menge, Anzahl, Übersicht – Größenordnungen, die uns seit unserer frühesten Kindheit begleiten.

500. Ausgeschrieben: Fünfhundert. Ein großer Wert, ein großes Wort. Nicht unermesslich, aber dennoch groß genug, als dass dieser Wert uns recht abstrakt vorkommt und wir ihn textlich in der Regel lieber als Zahlsymbol denn als Wort darstellen. Sich 500 – fünfhundert – Menschen vorzustellen, ist bereits eine fast unmögliche Aufgabe.
Dieser Artikel soll keine Abhandlung über numerische Kognition und Zahlenverstand werden. Sondern er will sich unter anderem mit den gesellschaftlichen Implikationen beschäftigen, die diesem Unvermögen zur Abstraktion solcher großer Zahlenwerte innewohnen und warum sie durch viele Faktoren beeinflusst, verzerrt und leider oft für viele relativierbar werden.

Und warum fünf Menschen in einem U-Boot mehr Aufmerksamkeit erzeugen.

Etwa 500 Menschen sind Mitte Juni im Mittelmeer ertrunken (vermutlich sogar mehr), untergegangen mit einem Flüchtlingsboot, das Schutzsuchende vom afrikanischen Kontinent und dem Nahen Osten in die vermeintliche Sicherheit Europas bringen sollte. Bereits Ende Mai wurde darüber berichtet, dass der Kontakt zu dem Schiff abgebrochen war, nachdem zuvor ein anderes Schiff gesunken und drei Menschen ertrunken waren. Neben der menschlichen Katastrophe stehen hier wieder einmal Fragen im Raum, inwieweit Behörden wie Küstenwachen und Organisationen wie Frontex schon früher von der Gefahrenlage wussten, ob sie bewusst untätig blieben, vielleicht den Untergang durch Fahrlässigkeit mit herbeiführerten. Und inwieweit die neue Flüchtlingspolitik der EU solche Unfälle noch weiter fördern wird.

Dem gegenüber steht nun die mediale Aufmerksamkeit zu einem verunglückten U-Boot eines privaten Unternehmens, das Tauchfahrten zum Wrack des 1912 gesunkenen Passagierdampfers Titanic anbietet. Fünf Personen befanden sich an Bord des Unterwasserfahrzeugs, allesamt abenteuerlustige Forscher, Unternehmer, privilegierte Reiche. Seit Sonntag, 18. Juni 2023 wurde das U-Boot vermisst. Nachdem es Spekulationen über Sauerstoffkapazitäten und Ursache des Verschwindens gab, kam am Abend des 22. Juni 2023 die traurige Gewissheit, dass das U-Boot wohl implodiert sei. Diverse Länder hatten die US-Küstenwache bei der Suche nach den Verschollenen mit Ausrüstung und Spezialschiffen unterstützt. Das Thema sorgte dermaßen für Interesse, dass unter anderem der YouTube-Kanal der Tagesschau regelmäßig Kurzvideos mit neuen Information hochlud.

5:500.

Es wäre jetzt leicht, zu leicht, das Fass der Moralprediger zu öffnen und anklagend auf den mangelnden Einsatz der Länder im Falle des Bootsunglücks im Mittelmeer zu zeigen, auf die standardisierten Nachrichtenschnipsel, auf die wenige öffentliche Resonanz im Vergleich zum U-Boot-Drama.
Denn einerseits stimmt das nicht hundertprozentig: Unter anderem berichten die Öffentlich-Rechtlichen in regelmäßigen Abständen über die Situation Geflüchteter auf dem Mittelmeer. Auch wird in den Medien oft nicht mit Kritik an der EU-Grenzpolitik gespart.
Andererseits sind beide Fälle vielleicht auch nicht hundertprozentig miteinander vergleichbar, was unter anderem auch wieder an der großen Zahl der Opfer liegen mag, die im Mittelmeer zu beklagen sind. Schließlich lässt uns bei großen Katastrophen unser Moralkompass leider oft im Stich: Mit den Schicksalen fünf einzelner Individuen, die dazu noch ein westlich geprägten kulturellen Hintergrund zu haben scheinen, können wir uns identifizieren, könnten es doch unsere nächsten Familienangehörige, Schwestern, Onkel oder PartnerInnen sein. Wenn hingegen praktisch ein ganzes Dorf verschwindet, noch dazu mit Menschen aus Ägypten, Libyen oder dem Sudan, ist die Empathie bei vielen nicht aktivierbar.
Ein ähnliches Problem mit dem ‚Wert‘ von Zahlen hatten wir bereits während der Corona-Pandemie, als nach Ansicht einiger die Tausenden Toten unter Alten und Kranken als nicht beachtenswert abgetan wurden, denn „sie wären ja ohnehin bald gestorben“. Bei Letzteren wehrte man sich damit gegen Lockdowns und andere Einschränkungen, bei Ersteren gegen die Beschäftigung mit dem Leid von Menschen, für das man selbst durch eigenes Konsum- und Alltagsverhalten teils mitverantwortlich ist.

Es ist diese ungesunde Mixtur aus großer Zahl, Vorbehalten gegenüber gewissen Kulturarealen und irrationaler Angst vor Überfremdung, Arbeitsplatzverlust und anderen rassistischen Ressentiments, gepaart mit Abstumpfungsprozessen durch ständige Nachrichten über Tote im Mittelmeer, die elendige Diskussion über Pro und Contra Verurteilung von Seenotrettern und vielem mehr, dass beim aktuellen Thema nicht wenigen Menschen die Gleichgültigkeit in Hirn und Herz getrieben hat.
Vergleichen wir hier ganz makaber ein Mal die Situation 2015, als das Bild des Dreijährigen Aylan Kurdi durch die Medien ging, der ebenfalls als Flüchtling bei einem Bootsunglück ertrank und dessen toter Körper in der Türkei an den Strand gespült wurde. Hier war die Empathiewelle eine ganz andere. Das Mit-Leid, dass man mit Aylan und seinem Vater hatte, der als einziger Familienangehöriger das damalige Unglück überlebte, war spürbar. Die Willkommenskultur war gigantisch, sie war plötzlich da, die Hilfsbereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter – und kurz darauf gleich wieder weg. Denn mit Leid und Mitgefühl ist das oft so ein Sache: Zu viel, und wir sehen weg, wollen nicht ständig konfrontiert werden mit weinenden, kranken, sterbenden Menschen – besonders dann nicht, wenn wir wissen, dass wir ihnen eigentlich helfen könnten. Müssten.
Man könnte auch sagen: Unsere Gesellschaft hat eine historisch gewachsene ungesunde empathische Haltung gegenüber Flüchtenden – den Festsitzenden im U-Boot gegenüber eher nicht.
Hier zeigt sich auch das Dilemma dieser beiden Geschichten. Sie werden einerseits nur deshalb als vergleichend herangezogen, weil sich beide eben in oder auf einem Schiff im Rahmen eines Bootsunglücks ereignet haben, noch dazu mit großer zeitlicher Nähe. Sonst eint beide Ereignisse nichts. So könnte man auch jeden erfrierenden Mount-Everest-Touristen beklagen, die Welt gespannt den Atem anhalten, wenn wieder in Region X Bergsteigergruppe Y verschwindet und Mittel und Wege gefunden werden müssen, um sie zu retten.

Andererseits zeigt aber eben gerade diese nur vermeintliche Nähe auf, wie schnell wir die Käseglocke unserer Ignoranz hochgehoben bekommen – und diese dann gewaltig stinkt. Wie schnell wir unserer Doppelmoral im Informationskonsum überführt werden.
Denn, mein Gott, jetzt ist es endlich mal wieder spannend, nach Jahren Corona, Kurzarbeit und Klopapiermangel, Krieg in der Ukraine, Klima-Klebern und Klimawandel, Dürre und Hitze und Starkregen und Überflutung und JETZT ENDLICH … Action-Thriller in Echtzeit! Echte Gefahr, echte Menschen, eingesperrt in einem echten U-Boot, die Luft wird knapp, die Uhr tickt, die Welt fiebert mit, es ist fast wie beim Elfmeterschießen im WM-Finale…
Genau, denn was bleiben wird vom U-Boot, ist der Katastrophen-Voyeurismus, den wir uns peinlich pseudo-moralisierend bei 500 Ertrunkenen im Mittelmeer verbieten. Im Prinzip sind uns die Menschen im U-Boot nämlich irgendwie auch scheißegal, Empathie hin oder her. Letztlich geht es um den Kick, um die Spannung. Denn U-Boot, Titanic, Sauerstoffmangel: Das klingt nach Survival-Thriller, nach James-Cameron-Filmen. Und gewiss wird früher oder später das erste Drehbuch zum U-Boot-Untergang bei irgendeinem Hollywood-Produzenten auf dem Schreibtisch liegen, wenn ein paar Jahre über die echte menschliche Tragödie hinweggezogen sind. Den Nervenkitzel kann man sich dann bequem im Kinosaal geben. Um kurz mal abgelenkt zu sein von den ganzen anderen Problemen dieser Welt, mussten fünf ohnehin viel zu reiche Abenteurer und Nervenkitzeljunkies in ihr Verderben tauchen.
Ist ja auch irgendwie dekadent, selbst Schuld. Um die braucht es keinem Leid tun, blöde Reiche…

Das Hin- und Her-Moralisieren, Rechtfertigen, Empathie verteilen, es ist so leicht…

Es ist das Dilemma, dass Menschen vor dem Hintergrund einer solchen Katastrophe wie im Mittelmeer emotional überfordert und/oder abgestumpft sind und von daher ein solches Leid gezielt ausblenden. Mit fünf Individuen, die zudem noch vermutlich unser Gesellschaftsbild und unseren Wertekanon teilten und dazu, wie in dieser Gesellschaft ja immer so erstrebenswert, reich und erfolgreich waren, fällt die Identifikation leichter, erzeugt mehr Emotionalität, mehr Empathie. Man wünschte ihnen alles Gute.
Fünfhundert Flüchtende, die in unserem System in der Regel nur mit Kosten, Kopftuch und Terrorgefahr in Verbindung gebracht werden, hätten vermutlich nicht wenige erst dann gute Heimreise gewünscht, wenn sie in den Abschiebeflieger gesteckt worden wären. Oder, wie Katharina Menne es in ihrem Kommentar auf spektrum.de ausdrückt: „In dem einen Boot sieht man sich möglicherweise selbst sitzen (wenn man nur das Geld hätte), in dem anderen hofft man, niemals Platz nehmen zu müssen (für kein Geld der Welt).

Fünf privilegierte Abenteuerlustige, die in einem Tauchboot bei einer kostspieligen Freizeitbeschäftigung starben, und fünfhundert Flüchtende, die im Mittelmeer kenterten und ertranken. Beiden Parteien ist gemein, dass sie in mehreren tausend Metern Tiefe ihr Leben verloren. Während das Schicksal Letzterer bereits beim erstmaligen medialen Bekanntwerden traurige Gewissheit war, blieb bei Ersteren einige Zeit noch ein Funke Hoffnung. Mit diesem Funken rechtfertigen sicher auch viele – Sendeanstalten, Medienportale sowie Privatkonsumenten – ihre Aufmerksamkeit auf das Thema. Und vermutlich wird uns der Tod der fünf Tauchfahrer (unterhaltungs)medial noch begleiten, wenn das Schicksal der 500 Menschen, die ihr Leben in Hoffnung auf eine bessere Zukunft vor der griechischen Küste verloren, längst in Vergessenheit geraten sein wird.
Bleiben wird die unangenehme Frage, warum der materielle, logistische und finanzielle Aufwand für fünf Menschen in Not nicht auch für 500 – fünfhundert – Flüchtende auf Schlepperbooten gilt. Die Antwort liegt vermutlich unter anderem im Ticketpreis für den Tauchgang zum Wrack der Titanic: Es kostete 250.000 US-Dollar. Zum Glück ereignete sich das Schiffsunglück von 1912 nicht im Mittelmeer.
Man stelle sich jetzt die Bilder vor …

https://sea-watch.org/

https://mission-lifeline.de/

https://seapunks.de/

https://www.seebruecke.org/

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