Tierhaltung vs. Umweltschutz

Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Verzichts! Viele Mächte des allesfressenden Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, die Milch- und die Fleischindustrie, CSU und FDP, radikale Medien und deutsche Metzger.
frei nach Karl Marx

Der Fleischkonsum ist das Paradebeispiel für ein Handlungsparadoxon in unserer Konsumgesellschaft: Übermäßiger Fleischverzehr ist gesundheitsschädlich. Die Massentierhaltung verursacht neben immensem Tierleid (und Menschenleid) auch immense CO²-Emissionen, der weltweite Futtermittelanbau zerstört Lebensräume von Mensch und Tier, dazu werden gigantische CO²-Speicher wie Regenwälder für diese Industrie immer weiter ausgedünnt; nicht zuletzt sind hiermit auch Pandemierisiken wie jetzt bei COVID-19 verbunden, wenn Menschen immer tiefer in tierische Lebensräume eindringen. Die beengten Verhältnisse in den Massientierhaltungsbetrieben sorgen für Krankheiten, der Antibiotikaanteil im Fleisch steigt – und damit auch die potenzielle Unwirksamkeit dieser.

Allein vor dem Hintergrund dieser Gesichtspunkte, die uns langfristig alle betreffen und jetzt schon für spürbare Veränderungen unseres Alltags gesorgt haben, sollte sich doch der Gedanke eingeschlichen haben, dass weniger Fleischverzehr auch weniger Fleischproduktion bedeutet und damit zu einer deutlichen Senkung klimaschädlicher Erzeugnisse, Zerstörung von Lebensraum und Versauerung von Böden sowie eines Rückgangs von Zivilisationskrankheiten aufgrund falscher Ernährung führt. Die Fakten hierzu liegen alle auf dem Tisch, gerade in Zeiten der Universalverfügbarkeit von Information sollte es nicht allzu kompliziert sein, sich ein halbwegs umfassendes Bild der Situation zu machen. Die Fleischindustrie berührt so dermaßen viele ökologische, ökonomische, ethisch-moralische, politische und kulturelle Bereiche unseres Lebens, das wir beim Konsum solcher Produkte nicht einfach irgendetwas kau(f)en sollten – besonders nicht, weil es billig ist oder wir es eben so gewohnt sind, immer und überall Berge von Fleisch angeboten zu bekommen.

Glaubt man aber dem durchschnittlichen Currywurstgenießer an der Pommesbude im die Ecke, geht die Erzählung ungefähr so: Linksgrünversiffte Öko-Hippies wollen den Deutschen ihre hart erarbeitete Wurst vom Teller klauen, den Braten aus dem Ofen verbannen und pappige, ungesunde pflanzliche Ersatzprodukte in die Münder der Bürger*innen schieben und sie dazu zwingen, diesen Fraß zu kauen und auch noch runterzuschlucken!

Zugegeben, diese Darstellung ist überspitzt. Tatsächlich wird aber von diversen Pressepositionen bis hin zu politischen Vertretern das Narrativ bedient, dass generelle Fragestellungenen zur Sinnhaftigkeit von Konsum in Verbindung mit Ökologie immer gleich etwas mit Bevormundung, Einschränkung persönlicher Freiheiten und am besten gleich Diebstahl zu tun hätten. Da aalt man sich doch lieber in seiner Hipster-Lifestyle-Vorstellung vom Fleischliebhaber-Kollektiv, das total divers und woke mega geiles Essen für den echten Genießer zusammenhackt.
Dazu hat in der Landwirtschaft ein Lobbyismus Tradition, der ökologische Veränderung ablehnt und auf immer mehr Tier- und Bodenausbeutung abzielt: Politikerinnen wie Julia Klöckner (CDU) oder Ilse Aigner (CSU) haben sich in ihren (zum Glück ehemaligen) Positionen als (Bundes-) Landwirtschaftsministerinnen weder sonderlich für einen ökologischen oder ‚artgerechteren‘ Umbau des Agrarsektors eingesetzt, noch haben sie aus ihrem Unwissen über landwirtschaftliche Belange im Allgemeinen einen besonderen Hehl gemacht – letztlich ging es um eine Gutstellung mit Bauernverbänden ohne  allzu große Maßregelung. Die Ansätze des neuen Landwirtschaftsministers Cem Özdemir (Grüne), Tierprodukte nach Haltung zu labeln, mögen zwar ein Schritt in die richtige Richtung sein, dürften sich unterm Strich aber auch nur als aktionistische Symptombekämpfung herausstellen. Die heilige Kuh des Rechts auf ungezügeltes Fressen wird nicht angefasst.
Der Staat ist hier wieder ein Mal kein Mentor, kein Vordenker, kein Steuerer, sondern darf nur ein wenig Rahmenbedingungen abklopfen und die Wirtschaft dann machen lassen. Die FDP wird es freuen, denn sie hat erfolgreich eine Abgabe auf tierische Produkte abgewehrt beziehungsweise sich nicht Mal Gedanken über Subventionierung von Alternativproduzenten, beispielsweise aus dem Bio-Sektor gemacht – dabei zeigte sich FDP-Chef Lindner im Mai 2020 noch ganz brav oppositionell offen für höhere Fleischpreise. Das ist nun passé, die Agrarlobby wird angeklopft haben. Hauptsache viel, Hauptsache erschwinglich. Und nebenbei auch noch mit pseudo-moralisierender Argumentation sozialer Gleichheit an der Kühltheke in Zeiten der Inflation auftrumpfen. Man kann nach wie vor gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.

Fakt ist, dass Deutschland immer noch eines der Länder mit dem weltweit höchsten Fleisch- und Milchproduktverbauch überhaupt ist. Zwar geht der Verbrauch kontinuierlich zurück, noch immer verputzen die Deutschen im Schnitt aber knapp 60 Kilogramm Fleisch im Jahr – was in etwa dem Doppelten der medizinisch überhaupt empfohlenen Maximalmenge entspricht. Ebenfalls Fakt ist, dass die Biomasse der für die Fleischindustrie gezüchteten Tiere die Biomasse aller wildlebenden Landtiere seit Langem um ein Vielfaches übersteigt – was den geneigten Kulturpessimisten zu der philosophischen Frage führen könnte, was in unserer Zeit überhaupt noch als ‚Lebewesen‘ bezeichnet werden kann, wenn über 60% davon nur als Zwischenprodukt für ein Konsumendprodukt existieren. Fakt ist auch, dass die Bundesregierung seit Jahren Teile der Agrarlobby steuerlich subventioniert: Fleischprodukte werden mit 7% besteuert, Haferprodukte dagegen mit 19%. Dabei wäre es viel begrüßenswerter, pflanzliche Erzeugnisse günstiger zu machen und damit Anreize für deren Konsum zu schaffen. Dazu könnte der Staat anstatt der Massentierhaltungsbetriebe gezielt kleinere (Bio-)Fleischproduzenten fördern, damit wenigstens im Ansatz ökologisch verträgliche Fleischprodukte für die geneigten Konsumenten erschwinglicher würden.

Das Problem an der Debatte ist, dass (staatlicher) Einfluss auf Konsumfragen immer mit einem begrifflichen Totschlagsargument versehen wird: dem verhassten ‚Verzicht‘. Kaum ein Begriff in unserer konsumkapitalistischen Zeit ist so negativ konnotiert. Verzicht = Verlust von Lebensqualität, das ist die Sage. Verzicht, das ist (Selbst-)Reglementierung, das ist im schlimmsten Fall auch noch autoritärer Staat, und damit ist das Kommunismus, ja, Stalin, Millionen Tote! Wer hier Lebensqualität damit gleichsetzt, die Augen vor der eigenen Gesundheit, der eigenen Befähigung, Selbstsorge zu betreiben, dem Klima sowie vor dem Leid von Millionen anderer Lebewesen zu verschließen… ja, dann geht diese Gleichung sicher auf.
Stichworte sind hier oft Ignoranz und Unwissen – aber auch kulturelle Prägung. Denn die Diskussion über den Konsum von Lebensmitteln ist kulturell höchst komplex und daher auch ausgesprochen emotionalisiert. Manch eine/r verbindet mit dem Sonntagsbraten Erinnerungen an die Kindheit (und früher war ja ohnehin alles besser!), an Omas Hausmannskost oder familiäres Beisammensein. Essen war immer ein soziales Ereignis, ungeachtet von Fast-Food-Kultur und Mikrowellen-Essen. Das hat schon Jonathan Safran Foer in seinem lesenswerten Sachbuch „Tiere essen“ (Kiepenheuer&Witsch, Köln 2010) eingehend untersucht, indem er sich auch mit seinen ganz eigenen gefühlsbasierten Dilemmata des Verzehrs von Tieren auseinandersetzt. Niemand muss gezwungen werden, den Film „Earthlings“ (2005) anzusehen, um sich klarzumachen, was wir hier mit unseren Mit-Lebewesen auf diesem Planeten anrichten (könnte aber vielleicht helfen). Das Nutz- und Haustier-Dilemma etwa begegnet uns im Prinzip jeden Tag bei Gassigehen und im Supermarkt.

Dieser Diskurs über die Sinnhaftigkeit unseres (Fleisch-)Konsums erzeugt auch durchaus Positives: Wie das Beispiel des Bio-Metzgers, der seine Expertise in Fleischalternativen einbringt. Oder das generelle Bewusstsein für vegetarische und vegane Ernährung, das besonders unter den jungen Bevölkerungsanteilen wächst beziehungsweise durch diese erst überhaupt auf die Tagesordnung gebracht wird – auch Fridays for Future sei Dank! Aber auch durch Betriebe, die ihr Produktportfolio massiv umstellen und mittlerweile immer mehr mit pflanzlichen Produkten umsetzen.
Oder einfach die generelle Erkenntnis, dass der Auflauf im Ofen auch super ohne Hack und Schinken auskommen kann.

Als weiterführende Lektüre ist der Fleischatlas der Heinrich-Böll-Stiftung zu empfehlen, der seit 2013  regelmäßig einen Blick auf Industrie, Konsum und soziale wie ökologische Fragen wirft. Als PDF kostenlos downloadbar.

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