Die Zwei-Klassen-Gesellschaft für Flüchtende muss ein Ende haben
Bis Ende April 2022 sind seit Kriegsausbruch in der Ukraine am 24.02.2022 etwas mehr als 600.000 geflüchtete Menschen aus dem angegriffenen Land nach Deutschland gekommen beziehungsweise von hier aus weiter in andere europäische Länder gereist. Der Krieg wird vermutlich noch eine längere Zeit andauern, von daher ist mit einer weiter wachsenden Zahl zu rechnen. Dass diesen Menschen unsere Solidarität gelten muss, steht außer Frage. Dass sie Anspruch auf Unterkunft, Versorgung, medizinische und psychologische Betreuung, Aussicht auf Arbeit und Bildung haben, und dass dies einen großen logistischen Aufwand bedeutet, ist unbestritten. Ressourcen- wie platztechnisch stellt das vielleicht eine Herausforderung dar – doch wir haben mit der generellen Behandlung flüchtender Menschen an sich ein viel größeres Problem.
Denn die aktuelle Situation wirft wieder ein Mal ein entlarvendes Licht auf den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Flüchtenden, der hier in Deutschland (und generell in vielen Staaten) vorzuherrschen scheint. Denn wir leben in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, wenn es um schutzsuchende Menschen geht. Dazu mag ein kleines, leicht zu lösendes Rätsel hilfreich sein: Was unterscheidet viele der ukrainischen Bürger, die jetzt in unserem Land Schutz suchen, von flüchtenden Menschen aus beispielsweise Syrien, dem Sudan, Eritrea oder Afghanistan?
Die Antworten:
a) Sie leben viel näher an unseren Grenzen.
b) Sie sind in der Mehrheit hellhäutig.
c) Es handelt sich aktuell fast ausschließlich um Frauen mit Kindern oder um alte Menschen.
d) Die meisten von ihnen sind Christen.
Es ist diese Doppelmoral, das bereits seit Jahrzehnten Praxis in der EU ist und die unter anderem dazu führt, dass zwischen der Grenze Belarus und Polen muslimische Kriegsflüchtlinge über Monate hinweg in einem Wald festgesetzt werden, während ukrainische Flüchtende quasi durchgewunken werden – wenn sie denn eines oder am besten jedes der oben aufgezählten Kriterien erfüllten. Denn es mehren sich auch hier die Berichte, dass etwa in der Ukraine lebende Auslandsstudenten vom afrikanischen Kontinent tagelang an der Grenze ausharren mussten, bevor sie nach Polen gelassen wurden oder gar ganz abgewiesen wurden.
Und damit nicht genug: Aus der Ukraine geflohene Angehörige der Roma und Sinti sind in Deutschland Antiziganismus ausgesetzt – so etwa geschehen in einem Rückzugsraum am Hauptbahnhof Mannheim, wo eine ukrainische Romafamilie vom Bahnpersonal abgewiesen wurde: „Solche Menschen kommen hier nicht rein“ ist der O-Ton, den viele Helfende vor Ort hören müssen – und die sie leider nur zu gut aus vielen Erstaufnahmezentren kennen. Auch Berichte über die Zweitklassifizierung von Menschen mit körperlichen Besonderheiten gibt es; etwa von gehörlosen geflüchteten Ukrainer*innen, die viel länger auf eine Wohnungszuweisung warten mussten als Hörende.
Falsche Hautfarbe, Religion oder kulturelle Zugehörigkeit – wer nicht weiß, westlich und am besten noch christlich ist, fällt buchstäblich durchs Raster. Ganz abgesehen davon, dass es einen massiven Unterschied in der Bewegungsfreiheit und dem Alltagsleben gibt, ist man nun Flüchtende, Asylbewerber oder gar ‚illegale Immigrantin‘ – für die weltweit bereits knapp 30 Millionen Menschen, die durch klimatische Veränderungen zur Flucht aus ihren Heimatregionen gezwungen sind, gibt es noch nicht einmal einen konkreten Status.
Die Geflüchteten aus der Ukraine fallen unter die EU-Richtlinie zum „vorübergehenden Schutz“, das heißt sie dürfen sich ein Jahr ohne nötiges Asylverfahren im Zielland aufhalten. Dieser Status kann gegebenenfalls auf bis zu drei Jahre ausgeweitet werden. Diese Menschen dürfen hier auch arbeiten, wobei etwa der DGB darauf hinweist, dass im Heimatland erworbene Abschlüsse dringendst anzuerkennen sind, um das Abdriften ausgebildeter Fachkräfte in den potenziell prekären Niedriglohnsektor zu vermeiden.
Warum kann dieser Status für Menschen aus der Ukraine gelten, für Flüchtende anderer Ethnie oder Kultur, von anderen Kontinenten (oder einfach nicht-normativer Erscheinungsform) jedoch nicht? Wenn wir uns als Gesellschaft nicht vollends moralisch unglaubwürdig machen wollen, müssen wir uns für alle Geflüchteten einsetzen, egal, wer sie sind. Mit Blick auf das Arbeitsleben sind hier auch Gewerkschaften und Betriebsräte gefragt, Druck auf Arbeitgeber und Politik auszuüben, damit diese Menschen möglichst einfach und unbürokratisch hier ankommen und sich vom Schrecken der Flucht so gut es geht erholen können. Dabei können auch die oft sitefmütterlich behandelten internationalen Gewerkschaftsverbände IGB oder IUF eine Anlaufstelle sein, um sich zu vernetzen und aktiv mitzugestalten, damit Flüchtende Menschen auch in Deutschland eine Zukunft haben können.