Dienstag, der 24. Februar 2022 wird als Zäsur in die europäische Geschichte eingehen: Die Russische Föderation greift die Ukraine militärisch an. Fast auf den Tag genau 24 Jahre nach dem Beginn des Kosovokriegs herrscht auf europäischem Boden wieder Krieg. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg greift eine überlegene Großmacht einen kleineren Nachbar an, um sich dessen Staatsgebiet einzuverleiben.
Die Beteuerungen Vladimir Putins, die zwei Separatistengebiete Luhansk und Donezk zu verteidigen und die Ukraine zu „entmilitarisieren“ und von „Neonazis“ zu befreien, klingen wohlvertraut und erinnern an die Rechtfertigungen der Nationalsozialisten vor dem Überfall auf Polen: Damals wurden Gräueltaten und Massaker von Polen an sogenannten „Volksdeutschen“ behauptet – heute ist es der angebliche Genozid an russischen Bürgern in der Ostukraine. Putin bemüht Erinnerungen an den antifaschistischen Krieg und betreibt damit Geschichtsklitterung der übelsten Sorte. Es zeigt sich nun, was sich seit dem Georgienkrieg 2008 und der Krim-Annexion 2014 abzuzeichnen drohte: Spätestens nach dem heutigen 24.02.2022 ist die Welt-Geschichte um einen weiteren kriegstreibenden Diktator reicher.
Bei aller auch berechtigten Kritik an der teils überheblichen Einstellung des ‚Westens‘ gegenüber Russland, den Spielball, den die NATO für die USA teils in Fragen der Ost-Erweiterung und damit geopolitischer Einflusszonen darzustellen schien, bei all diesen kritikfähigen Fakten ist dieser Angriffskrieg Russlands dennoch durch nichts und wieder nichts zu rechtfertigen. Die Drohungen Putins, jeglicher Einmischung ultimative Konsequenzen historischen Ausmaßes folgen zu lassen, setzt die Weltgemeinschaft Schachmatt: Denn Russland droht damit faktisch mit Atomwaffen. Und diese Bedrohung war vielleicht nie fort, sie war nur verdeckt unter Wohlstand, Konsum und jahrzehntelangem Frieden in Europa und vielen Teilen der Welt. Vielleicht sind wir jetzt auch einfach nur aufgewacht in der echten Welt. Um es mit den Worten des Investigativ-Journalisten und Webvideoproduzenten Alexander Prinz (YouTube-Pseudonym: Der Dunkle Parabelritter) auszudrücken: „Russland hat uns ausgespielt.“
Es gibt im Krieg nur Verlierer: Hier zuvorderst die Ukraine, die ihre Souveränität verliert, wirtschaftlich ruiniert, gesellschaftlich gespalten und international isoliert wird, weil sich niemand trauen wird, ihr militärisch beizustehen. Die Weltgemeinschaft, weil sie offensichtlich versagt hat, über Gespräche und Diplomatie diesen Konflikt zu verhindern. Aber auch grundlegende Fragen des Sinn und Nutzens von Rechtsstaatlichkeit kommen wieder auf, wenn sich ein Putin beim Angriff auf Artikel der UN-Charta beruft.
Wir dürfen nie vergessen: „Die Apartheid war ‚legal‘. Der Holocaust war ‚legal‘. Die Sklaverei war ‚legal‘, der Kolonialismus war ‚legal‘. Rechtmäßigkeit ist keine Frage von Gerechtigkeit, sondern Macht.“ Das Zitat, dass unter anderem dem Schauspieler Chris Rock zugeschrieben wird, bringt das Dilemma von Recht und Rechtsstaatlichkeit auf den Punkt.
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden sind unfassbare Errungenschaften, aber man muss sie sich leisten können. Wir haben sie uns geleistet, aber oft auf den Rücken anderer und haben dabei, vielleicht, den Blick für die Realität verloren. Es geht vielen Machthabern auf diesem Planeten um keinen der drei obigen Punkte, sondern einzig und allein um Macht, Einfluss, Selbstbereicherungen, oder, wie im Falle Putins, dazu noch um das Zurückdrehen des Rads der Geschichte. Wir müssen nun umdenken, denn das Märchen, das wir uns jahrzehntelang im ‚Westen ‚erzählt haben, ist auserzählt. Wir stehen mit unserer Einstellung, mit Gesprächen, aber auch mit Geld, alle Probleme lösen zu können, hilflos da vor den Fakten, die Russland nun geschaffen hat.
Francis Fukuyama hat vor 30 Jahren vom „Ende der Geschichte“ gesprochen: Er bezeichnete damit den Zustand einer postsowjetischen, neoliberalen Ära, die sich mit Demokratie und freier Marktwirtschaft nun als Zeitstrahl vom Punkt des Endes der UDSSR endlos fortsetzen würde. Kapitalismus und Demokratie hatten seiner Ansicht nach gewonnen.
Nie war seine Prognose falscher als an diesem Tag.
Zeitsprung in mehrfacher Hinsicht: Im Jahre 1935 forschen zwei deutsche Geologen in Namibia (damals noch Südwestafrika). Bei Kriegsausbruch 1939 fürchten die jungen Männer als „feindliche“ Ausländer in einem fremden Land die Inhaftierung durch die südafrikanische Besatzungsmacht. Sie starten einen Fluchtversuch in die lebensfeindliche Namib-Wüste und überleben unter schwerem Hunger und Durst zweieinhalb Jahre, bis der Vitaminmangel sie zurück in die Zivilisation treibt. Das Tagebuch des Geologen Henno Martin wird später die Roman-Vorlage zum Überlebens-Klassiker „Wenn es Krieg gibt, gehen wir in die Wüste“.
Wir als Europäer, als EU, als US-Amerikaner, Chinesen, Ghanaer, Bolivier, Kanadier, Saudi-Araber, als Thai oder Vanuatuer, als Teil der Vereinten Nationen, als Menschen auf diesem Planeten, werden uns nun auch fragen müssen, wohin wir gehen können. Wir können nicht vorwärts in einen Krieg marschieren, denn die Konsequenzen wären ultimativ und verheerend und würden eine zerstörte Ödnis zurücklassen. Wir können aber auch nicht zurückweichen, denn damit befeuern wir die Großmachtfantasien eines russischen Despoten. Und wir können nicht, um in der Wüsten-Terminologie zu bleiben, den Kopf in den Sand stecken. Militärisch wird die NATO nun wie 1968 beim Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei vermutlich ihre Grenzen verstärken, das bedeutet Tausende Truppen im Osten Polens, Lettlands, Estlands, in Litauen, der Slowakei, in Rumänien und in Ungarn – aber vermutlich auch in Norwegen, dass im Nordosten an Russland angrenzt. Denn Skandinavien wird durch das ambivalente Verhältnis Finnlands zu Russland ebenfalls destabilisiert. Das Mittel Sanktionen wird Russland hart treffen, aber wie hart und welche Absicherungen dagegen das Land bereits getroffen hat, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was China für Lehren aus diesem Konflikt ziehen wird, einerseits, was das Verhältnis zu Russland betrifft und andererseits, wie sehr es eine Intervention im Ostchinesischen Meer (Taiwan und die Senkaku-Inseln) wahrscheinlicher macht. Und was hat der Besuch des Pakistanischen Präsidenten Imran Khan in Moskau am Tag des Angriffs auf die Ukraine zu bedeuten? Warum ist Indien bislang absolut neutral geblieben?
Und was passiert nun hier, in diesem Land? Wir werden, besonders in Deutschland, unsere Energiepolitik neu ausrichten müssen, denn russisches Gas kann und darf nun nicht mehr zur Versorgung in Europa beitragen. Das wird neben Preissteigerungen potenziell auch Auswirkungen auf erhoffte Klimaziele haben. Und wir müssen als EU unsere Grenzen für Flüchtlinge öffnen, und hoffentlich endlich lernen, dass es egal sein sollte, ob Menschen aus der Ferne wie aus Syrien oder dem Sudan zu uns fliehen, oder ob es unsere direkten ukrainischen Nachbarn sind. Und letztlich müssen wir uns auch an den Gedanken gewöhnen, dass die NATO immer noch ein Sicherheitsgarant sein muss, zumindest ist es zu hoffen, denn alles andere wäre eine Katastrophe. Ein neues Zeitalter ist auf diesem Kontinent herangebrochen, und es ist ein düsteres. Wohin gehen wir?